Weihnachtsbrief 2023

Weihnachtsbrief 2023

Liebe GIRASSOL-Freunde,

vor zwei Tagen kehrte eine 4-köpfige Delegation des Fördervereins von einer knapp dreiwöchigen, selbst­verständlich privat finanzierten Reise nach São Paulo zurück. Für Thomas B. Schmidt und seine Ehefrau war es der erste Besuch in GIRASSOL. Es ging ihnen wie allen Anderen, wenn sie die lange Fahrt nach Grajaú antreten: der Weg beginnt in einer „guten Gegend“ und führt durch stetig „schlechter“ werdende Stadtteile, in denen zunehmend Armut, Dreck, Lärm, Gestank und Chaos das Bild bestimmen. An Tagen mit normalen Verkehrsverhältnissen dauert die Fahrt etwa eine Stunde und gewährt dem aufmerksamen Beobachter sehr eindrückliche Einblicke in die extremen sozialen Kontraste der brasilianischen Gesellschaft. Eine Armeslänge neben dem Auto blickt er da und dort in die erbärmlichen Behausungen derjenigen, die am untersten Rand dieser Gesellschaft dahinvegetieren: es sind unvorstellbar schmutzige Unterstände, zusammengefrickelt aus zusammengetragenen Plastikplanenfetzen, Sperrholzplattenresten, Pappkarton­fragmenten unter Stadtautobahnbrücken geklemmt, an Stützmauern öffentlicher Grundstücke gelehnt, kaum Schutz vor Hitze, Kälte oder Regen bietend. Die sanitär-hygienischen Gegebenheiten sind unbe­schreibbar … Diese Menschen schlagen sich mit Betteln oder Diebstählen durch, sammeln recyclebaren Müll, mit dem sie ein paar Cent verdienen können. Viele von ihnen sind schwer alkohol- und/oder crackabhängig und alles andere als gesund. Je weiter man sich von den Gegenden entfernt, in denen der Mittelstand oder gar die Oberschicht zuhause sind, desto schlechter wird der Zustand der Straßen, um so ramponierter die Fahrzeuge, desto hässlicher die Bauten; die Geschäfte bieten nur noch minderwertige, billige Waren feil; herrenlose Hunde streunen herum auf der Suche nach Fressbarem. Die Bewohner dieser ärmlichen Stadt­teile versorgen sich mit Strom und Wasser für gewöhnlich dadurch, dass sie an den oberirdisch installierten Hauptstromleitungen „Abzweigungen“ anbringen und somit auf anderer Leute Rechnung die eigenen vier Wände elektrifizieren; beim Wasser wird ebenso verfahren; Abwasser wird einfach „rausgeleitet“ - den Abtransport erledigt das Gefälle der Straße oder des Weges, denn São Paulo ist eine sehr hügelige Stadt! Unrat aller Art liegt auf der Straße und rottet in der Hitze vor sich hin; häufig wird der ausrangierte Kühl­schrank, beispielsweise, einfach im Bach, der in fast allen kleinen Tälern fließt, entsorgt. Beim nächsten Starkregen, der in den Tropen so selten nicht vorkommt, kann das Gewässer die Regenwassermassen nicht ableiten, läuft über und verursacht mitunter riesige Überschwemmungen, die wiederum den eh immer am Limit funktionierenden Verkehr komplett zum Erliegen bringen - dann kann die Fahrt nach Grajaú auch schon ‘mal drei bis vier Stunden dauern …

Aber dann biegt man in die Rua Ricardo Macedo ab, und der Besucher nimmt überrascht wahr, dass da einige Straßenbäume wachsen - und genau im Schatten dieser Bäume befindet sich die Einfahrt zu GIRASSOL! Das Tor öffnet sich und dem Auge des verblüfften Ankömmlings zeigt sich ein baumbestande­nes, mit Blumenbeeten verziertes, sauberes Grundstück; ordentliche, hübsch anzusehende Gebäude darauf verteilt, Kinderspielplätze, Gemüsegarten und Obstbäume, durchzogen von Wegen, alles eingefasst von einer anständigen, buntbemalten Mauer: eine Oase inmitten der unschönen Umgebung. Dona Betania, die neue Hausherrin hier, kommt einem mit offenen Armen und einem warmen Lächeln entgegen, heißt die Besucher willkommen, führt sie durch das weitläufige Gelände. In den Räumlichkeiten der Kita werden die Gäste sofort von den Kleinen in Beschlag genommen, ganz selbstverständlich ins Spielen miteinbezogen, von der allgegenwärtigen, den Kindern Geborgenheit spendenden Herzlichkeit umfangen. Der Rundgang führt an der kleinen Ambulanz vorbei, wo unsere Krankenschwester Arlete sich bei Bedarf um die Großen und die Knirpse kümmert, zeigt die Räume, in denen Psychologinnen und Sozialarbeiterin ihre Schützlinge betreuen, wo die Lehrkräfte sich versammeln. Dann geht‘s durch das Berufsbildungszentrum: die Auszu­bildenden nehmen mehr oder weniger schüchtern Kontakt zu den Ausländern auf und versuchen sich in ihren Englischkenntnissen, zeigen im Robotik-Raum stolz, woran sie gerade herumexperimentieren - selbst­gebaute Fahrzeuge sollen mit selbstgebauten und -programmierten Motoren fahren. „Unglaublich!“ denkt der Nochniehiergewesene.

Dann öffnet sich die Tür in die Schneiderei-Lehrwerkstatt und die Gäste sehen voll Bewunderung die selbst­entworfenen Kleidungsstücke der Kursteilnehmer, die in wenigen Wochen ihr Abschlusszertifikat in Händen halten werden. Die Vorgabe war „Lasst Eurer Phantasie freien Lauf!“ und herausgekommen sind tatsächlich phantastische Kreationen, die als “Meisterstücke“ auf der Modenschau am Festtag der Abschlusszertifikats­übergabe einem großen Publikum präsentiert werden sollen. Noch wird an den Feinheiten herumgeschnip­pelt und -gestichelt - aber selbst der Laie kann erkennen, dass den Auszubildenden echtes Können vermit­telt wurde, sie sind nun vom Fach! Nächste Station: Bäckerei-Lehrwerkstatt - aaahhhh, hierher kommt der herrliche Duft, der einem schon die ganze Zeit das Wasser im Munde zusammenlaufen lässt 😋. Panettone ist heute das Thema, der von den italienischen Einwanderern eingeführte Weihnachtskuchen, der in­zwischen in Brasilien selbstverständlich zum Christfest gehört. „Meine Güte, sieht das alles verführerisch lecker aus! Hier würde man ja auch gerne ‘mal mitmachen!“ denkt der neugierige Zuschauer. Weiter geht‘s zum Multifunktionsplatz, der in GIRASSOL für Sport genutzt wird, als Aula, einmal in der Woche als Standort der mobilen Einheit der öffentlichen Gesundheitsbehörde, usw. Hier werkeln zahlreiche junge Leute mit Maßbändern, Grundrissplänen, bunten Zeichnungen und tuscheln ganz verschwörerisch, als der Besucher­trupp sich nähert. Auch hier wird am Meisterstück getüftelt, lautet die Auskunft, am 10. November würde das Geheimnis gelüftet werden. Der Rundgang endet im Speisesaal, wo die Kita-Zwerge gerade mit Heiß­hunger ihr Mittagessen vertilgen. Strahlende, wenn auch müde Kinderaugen, Besteckgeklapper, Kinder­stimmen, köstlicher Essensduft - dem Betrachter geht das Herz auf. Und während er noch so vor sich hinsinniert, was diese Kinder für ein Glück haben, in GIRASSOL aufgenommen worden zu sein, sagt einer von den kleinen Menschen mit ernstem Gesichtchen: „Tio (Onkel), wenn ich gegessen habe, werde ich Zähne putzen und dann schlafen.“ Und später liegt die Rasselbande wahrhaftig in ihren jeweiligen Grup­penräumen auf kleinen Klappbetten und schläft tief und fest … Nach den Kindern essen die Erwachsenen; Mitarbeitende wie Besucher bekommen das gleiche wie die Kleinen und es schmeckt so gut, wie es uns schon die ganze Zeit in die Nase gestiegen war: Hähnchenkeulen, Reis, braune Bohnen und Salat, frisch gepresster Orangensaft, frische Melone zum Nachtisch. Bevor wir nachmittags den Heimweg antraten, überraschten uns die Schul-Kinder in der Halbtagsbetreuung mit einer capoeira- Choreografie, die ihr Meis­ter mit ihnen einstudiert hatte.

Beim nächsten Besuch drei Tage später, brechen wir in Begleitung der Psychologin Priscila, der Einrich­tungsleiterin Betania, Rafaela und dem „Mädchen für alles“ Antônio im GIRASSOL-Auto zu einer Tour durch die Nachbarschaft auf, mit dem Ziel, einige der Unternehmerinnen kennenzulernen, die es nach ihrer Aus­bildung bei uns und der Unterstützung durch die Reconquista-Stiftung (wir berichteten im Sommerbrief ausführlich darüber) in die Selbstständigkeit geschafft haben. Zwei eröffneten einen Imbissladen und eine Andere eine Konditorei, die im Augenblick sogar erweitert wird, um dem wachsenden Erfolg zu entsprechen. Im gleichen Lokal will die Schwester der Inhaberin selbstentworfene und -gefertigte Kleidung nebst Maß­schneiderei anbieten. So können die beiden Alleinerziehenden sich die Standortkosten teilen und sind auch breiter aufgestellt, wovon sie sich geschäftlich mehr Sicherheit ausrechnen. Der Besuch eines Schönheits­salons muss kurzfristig aus Krankheitsgründen abgesagt werden. Zuletzt sehen wir uns noch in einem Kiosk um, der Schulutensilien, Kosmetik- und Dekoartikel, Handyschutzhüllen und zu unserer großen Über­raschung einen Handyreparaturservice anbietet. Die technischen Kenntnisse und die hierfür nötigen Werk­zeuge hat sich die Ladeninhaberin angeeignet, eine absolute Ausnahme in dieser von Männern dominierten Umgebung: eine Frau repariert Mobiltelefone! Alle diese Unternehmen sind, an unseren Standards gemes­sen, sehr einfach und bescheiden, aber sie ermöglichen ihren Betreiberinnen ein Einkommen, das sie finan­ziell unabhängig macht, ihnen ein vorher nicht vorhandenes Selbstbewusstsein schenkt und mit dem dadurch neugewonnenen Selbstwertgefühl ein selbstbestimmtes Leben führen lässt. So steht auf einmal eine ganze Familie auf einem gänzlich anderen, signifikant stabilerem Fundament und kann einer deutlich würdigeren Zukunft entgegensehen, ist dem Teufelskreis aus Armut und Perspektivlosigkeit entkommen - es hat sich ihr Leben um ein Vielfaches verbessert. Es bedurfte lediglich der Chance auf Bildung und Be­treuung, die sich bei GIRASSOL bot …

Natürlich gaben die GIRASSOL-Besuche reichlich Gelegenheit, die zahlreichen Themen zu besprechen, die konstant anliegen: unsere Einrichtung ist wie ein lebender Organismus zu verstehen, der sich ständig wan­delt und an die sich konstant verändernden Bedingungen angepasst werden muss. Es ist eine langfristige Planung zu erstellen und die Einhaltung derselben im Auge zu behalten, ggf. zu korrigieren; neue behörd­liche Vorgaben einzuhalten, bedeutet mitunter, dass diese sich mit plötzlich erhöhten Ausgaben, also Kosten verbinden; manchmal muss Langbewährtes auf den Prüfstand, weil die Alltagspraxis zeigt, dass es sich nicht mehr bewährt; manchmal tritt eine außerplanmäßige Instandhaltungsmaßnahme zutage, für die zu­sätzliche Mittel aufgebracht werden müssen (das sich verändernde Klima setzt der Bausubstanz mit den immer häufiger auftretenden „Superstarkregen“ und Stürmen heftig zu); dann und wann müssen kompli­zierte Personalangelegenheiten geklärt und gemeinsam entschieden werden; eventuell stehen bestimmte Neuanschaffungen an; die Ausarbeitung von neuen Projekten erfordert eine enge Abstimmung zwischen SBA GIRASSOL und Förderverein usw., usw.  Trotz aller regelmäßigen Video-Calls, durch die wir im stän­digen Austausch miteinander stehen, geht doch nichts über das „lebensechte“ Miteinander, von Angesicht zu Angesicht :-)) !

Am 10. November fand der dritte Besuch in Grajaú während dieser Reise statt. Wir hatten zwar bemerkt, dass „irgend etwas in der Luft lag“, aber es war nicht richtig greifbar gewesen. An diesem Freitag wurden wir empfangen mit der Ankündigung, heute sei ein Tag der Überraschungen für uns. Gestartet wurde in der Bäckerei-Lehrwerkstatt, wo wir gemeinsam mit der Vormittagsbelegschaft lernten, pão de queijo zu backen, ein überaus köstliches, allerorten in Brasilien allzeit verfügbares Gebäck aus fermentiertem Maniokmehl und Käse. Anschließend wurden brigadeiros in Angriff genommen. In Brasilien werden sehr viele doces (Süßigkeiten) zubereitet, entweder anlässlich einer Feierlichkeit (Geburtstag, Hochzeit, Taufe, Freundes­treffen, usw.) oder als kleine Beilage zum Tässchen Kaffee. Zu den Klassikern unter ihnen gehören die brigadeiros, eine kleine Kugel von etwa 2,5cm Durchmesser, hergestellt aus gesüßter Kondensmilch und Kakao. Dazu war ein Rezeptheftchen auf Deutsch (!) für uns zusammengestellt worden. Der Gedanke da­hinter war, dass die Auszubildenden mit den Besuchern in aktiven Kontakt kommen und dass die Besucher, gewissermaßen als Souvenir, zwei brasilianische must have it zuzubereiten lernen - das hat uns wirklich berührt! Wen es interessiert, der kann unter „Aktuelles“ auf unserer HomePage die Rezepte studieren ;-).

In der Schneiderei-Lehrwerkstatt hatte man sich überlegt, dass wir unsere selbstproduzierten Leckereien in einem nachhaltigen Baumwolltäschchen abtransportieren sollten. Allerdings sollten wir es selber nähen! Es war ein Horizont-erweiterndes Erlebnis, mitten zwischen den Auszubildenden, an den modernen In­dustrienähmaschinen die einzelnen Schritte bis zur fertigen Tasche selbst nachzuvollziehen 🙃

Und am Nachmittag fand die erste GIRASSOL-Talente-Show statt, komplett geplant und organisiert von den Auszubildenden des Verwaltungsgrundlagen-Kurses als Abschlussarbeit ihrer Ausbildung. Wochenlang hatten sie an ihrem Projekt gearbeitet, um Darsteller aus dem GIRASSOL-Umfeld geworben; eine Bühne mit Beleuchtung, special effects und Tonanlage gebaut; Programmabläufe festgelegt, um die vorgegebene Zeit einzuhalten und noch Vieles mehr. Es traten Auszubildende mit Gesangsdarbietungen auf, mit selbst einstudierten Tanzchoreografien; eine Kita-Mutter versuchte sich zum ersten Mal in ihrem Leben als stand-up-comidian; ein angehender Elektriker präsentierte einen selbstgebauten und -programmierten Hunde­roboter, der Kunststückchen ausführte ; der GIRASSOL-Kinderchor sang; selbstverfasste Gedichte wurden vorgetragen; zwei Lehrkräfte legten eine  Rock’n’Roll-Tanzeinlage vom Feinsten aufs Parkett; eine zukünf­tige Verwaltungsfachkraft führte als Moderatorin durch das Programm. Es war ein großes Vergnügen mit teilweise überwältigenden Einblicken und Erkenntnissen angesichts der bis dahin unbekannten Fähigkeiten einiger. Wir waren zutiefst berührt davon, wie tief einige sich in die Seele sehen ließen, ihre geheimen Sehnsüchte auslebten und freuten uns mit ihnen, den tosenden Applaus als Wertschätzung ihrer Leistung, der Überwindung des Lampenfiebers zu ernten.

An diesem Nachmittag erlebten wir das, was auch an den Tagen der festlichen Abschlusszertifikats-Über­gabe überdeutlich klar sichtbar wird: die Arbeit des 30-köpfigen GIRASSOL-Teams vor Ort erreicht unend­lich viel mehr als das bloße Vermitteln von bestimmten beruflichen Fertigkeiten. In GIRASSOL wird den Auszubildenden zusätzlich durch die intensive Betreuung durch den psycho-sozialen Dienst (Sozialarbeite­rin, Psychologin und Krankenschwester) das Rüstzeug, in Form von Selbstwertgefühl, Selbstvertrauen, ge­genseitigem Respekt, Durchhaltevermögen, Zuverlässigkeit, Ehrlichkeit, Hoffnung und noch so viel mehr gegeben, sich in der garstigen Welt außerhalb des geschützten Raumes unserer Einrichtung zurecht zu finden; um sich ein selbstbestimmtes, nicht kriminelles Leben aufzubauen, einer hoffnungsvollen Zukunft entgegenzustreben und damit der Perspektivlosigkeit ihrer Herkunft zu entkommen.

Dass durch GIRASSOL das Leben so vieler Familien sich zum Besseren wendet, ist nur möglich, weil es Menschen wie Sie gibt, die diese Arbeit durch Ihre fortwährende finanzielle Unterstützung ermöglichen; uns seit nunmehr 31 Jahren Ihre Spenden schenken und damit dazu beitragen, unsere immer mehr aus den Fugen geratende Welt ein ganz klein wenig menschlicher zu gestalten.

Zwar hat der Verwaltungs-Auszubildende Patrick de Sant‘Anna kein Weihnachtsgedicht geschrieben, aber als er es bei der Talenteshow vortrug, ergriff es uns so sehr, dass wir beschlossen, es als Schluss unseres Weihnachtsbriefes an Sie zu veröffentlichen, selbstverständlich mit der Einwilligung des Verfassers! Es drückt alles aus, was sowohl GIRASSOL als auch die Weihnachtsbotschaft ausmacht: das Licht der Hoff­nung! (siehe unten)

Mit ganz frischen Eindrücken aus dem heißen São Paulo, das sich allerorten weihnachtlich schmückt und den Herzen voller Dankbarkeit für Ihre Unterstützung grüßen Sie, begleitet von den besten Wünschen zu den bevorstehenden Festtagen,

Ihre

Andreas Krebs, Vorsitzender                           Dr. Thomas Schmidt, stellvertretender Vorsitzender

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