Weihnachtsbrief 2020
Liebe GIRASSOL-Freunde, das Leitmotiv von GIRASSOL in São Paulo lautet „Transformando vidas através de educação“ (Leben durch Bildung zum Besseren wenden). Wenn der Förderverein Rückschau hält auf das zu Ende gehende Jahr, fragen wir uns natürlich, in welchem Maße sind GIRASSOL, unser Trägerverein SBA und wir diesem Auftrag gerecht geworden.
Für 2020 müssen wir mit großem Bedauern festhalten, dass der Bildungsvermittlung, gemessen an unseren eigenen Standards, nur unbefriedigend nachgekommen werden konnte. Seit dem 13. März ist GIRASSOL, wie alle Bildungseinrichtungen in São Paulo, wegen der CORONA-Pandemie geschlossen. Alle paar Wochen stellen die Behörden die Wiederaufnahme des Lehrbetriebes unter bestimmten, strengen Bedingungen in Aussicht, um die angekündigten Termine dann wieder zu verwerfen.
Das bedeutet für die Leiterin Dona Cleibe und ihr Team eine ungemeine Belastung, für die betroffenen Kinder, Jugendlichen und deren Familien fortwährende Ungewissheit, verbunden mit Stress. So langsam können die „favela“-Bewohner wieder Arbeit finden – die Kinder können jedoch in Kitas und Schulen noch nicht betreut werden. Das heißt, dass die Notlage der einfachen, unzureichend gebildeten Menschen anhält . . . In Brasilien korreliert das Schuljahr mit dem Kalenderjahr: Mitte Dezember bis Mitte Februar sind Sommerferien.
Der aktuelle Plan sieht vor, in 2020 den Präsenzunterricht nicht wieder aufzunehmen und in 2021 den Lehrstoff von zwei Schuljahren zu bewältigen. In unserem Sommerbrief haben wir die durch CORONA katastrophal verschärfte Situation in Grajaú ausführlich beschrieben. In dem Dreivierteljahr seit der Schließung hat sich bei GIRASSOL dennoch sehr viel ereignet! Sofort war klar, dass es von außerordentlicher Wichtigkeit ist, Kontakt zu Kindern und Jugendlichen via Handy zu halten. So stellte sich ganz schnell heraus, in welch existenzieller Notlage die Familien sich befanden: ohne Arbeit war nicht einmal genug Geld da, Lebensmittel zu kaufen, die Menschen waren vollkommen verzweifelt und orientierungslos.
Bereits im April wurden die ersten 100 Lebensmittelpakete à € 20 an die „GIRASSOL-Familien“ übergeben. Seit Mai werden auch die Berufsschüler versorgt – bei ihnen daheim sieht es ja genau so traurig aus. Seit vier Monaten gibt es zusätzlich auch noch „Gas-Gutscheine“. Praktisch überall in Brasilien wird mit Gas gekocht, das in 15-Liter-Behältern verkauft wird. Es kristallisierte sich ziemlich bald heraus, dass diese Krise lange andauern und die Unterstützung langfristig vonnöten sein würde. Dona Cleibe und ihr Team, die SBA und der Förderverein kamen überein, dass GIRASSOL nicht zum Lebensmittelverteilzentrum werden darf, wo ganz selbstverständlich einmal im Monat alles gratis zur Abholung bereit steht.
Und so wurde ein kleiner Katalog von Voraussetzungen entwickelt, die auf Seiten der Empfänger erfüllt werden müssen, um weiterhin „abholungsberechtigt“ zu sein. So müssen die Leute sich ausweisen und ihr Verhältnis zum Kind/Jugendlichen erläutern, dann wird der Erhalt der Pakete auf einer Liste quittiert. Die AHA-Regeln werden gebetsmühlenartig in Erinnerung gerufen und bei der Abholung eingefordert. In der Schneiderei-Lehrwerkstatt genähte Nasen-Mund-Schutzmasken werden den Paketen beigelegt. Periodisch werden die Impfausweise der Kinder kontrolliert, auf aus- bzw. anstehende Impftermine hingewiesen und eine kurze Befragung über die Verhältnisse zuhause durchgeführt.
Bei der monatlichen Abholung des Paketes wird den Kita-Kids-Angehörigen eine Mappe mit Arbeitsblättern für den neuen Monat mitgegeben: 5 Blätter/Woche, 1x für morgens, 1x für nachmittags, begleitend zu den „Whats-App-Videokonferenzen“, zweimal täglich mit den Erzieherinnen. Die „bearbeiteten Blätter“ sind bei der nächsten Lebensmittelübergabe abzugeben und gegen neue einzutauschen. Es ist ein neuer virtueller, sehr präzise durchstrukturierter Lehrplan und -rhythmus für die Kleinen von den GIRASSOL-Erzieherinnen erarbeitet worden. Dieses Angebot wird ausnehmend gut angenommen, und es gelingt, zu etwa 95% der Kinder Kontakt zu halten. Die Malutensilien für diese Aufgaben, beispielsweise, stammen aus einer wirklich sehr großzügigen Sachspende von Faber-Castell/Brasil und konnten den Kindern nach Hause mitgegeben werden. Natürlich vermissen die Kinder das Toben auf dem Spielplatz, das angeleitete Spielen, die fünf Mahlzeiten und die Gemeinschaft in der Einrichtung – das lässt sich virtuell nicht ersetzen.
Auch für die Auszubildenden wird angestrebt, den Unterricht fortzuführen. Es ist jedoch ungleich komplizierter. Um eine halbwegs störungsfreie Kommunikation überhaupt möglich zu machen, wurde vor Ort im Kreis der Spender und Unterstützer darum gebeten, GIRASSOL alte, ungenutzte Tablet-Computer und Smartphones für die Jugendlichen zu überlassen. Zwar konnten so alle ausgerüstet werden, aber da wo die Leute wohnen, ist Internet keine verlässliche Selbstverständlichkeit: häufig fällt die Stromversorgung aus, usw. Auch kann natürlich nur Theorie vermittelt werden – praktisches Lernen/Lehren sind derzeit unmöglich.
Dennoch hoffen alle sehr, dass für dieses Manko bald eine Lösung gefunden wird. In der Berufsschule erreichen wir etwa 55-60% der jungen Leute: einige kommen mit „dem Virtuellen“ nicht zurecht, und andere konnten irgendwo einen Job ergattern und bringen so als einzige Geld in die Familienkasse. Als der ‚lock-down“ im März in São Paulo verhängt wurde, waren sich SBA und Förderverein sofort einig, alles daran zu setzen, ohne Entlassungen durch die Krise zu kommen. Viele Millionen Menschen haben deswegen ihr Einkommen verloren – es sollten nicht auch noch die GIRASSOL-Mitarbeiter zu diesem Heer der Hoffnungslosen gezählt werden müssen.
Davon abgesehen herrscht ein sehr gutes Arbeitsklima, ein herzlich-solidarisches Miteinander im Team, das unter wirklich schwierigen Alltagsbedingungen in Grajaú arbeitet. Und das gemeinsame Meistern der Krise – ALLE packen an, wo es gerade nötig ist, sei es bei den Lebensmittelaktionen, bei organisatorischen Herausforderungen oder konkreten Hilfestellungen bei Kindern und Schülern – schweißt alle zusammen. Dona Vera, seit 20 Jahren Köchin in GIRASSOL hat es sich nicht nehmen lassen, ihren Kindern Muffins, Schinken-Käse-Schnecken und „doces“ (typische, traditionelle brasilianische Süßigkeiten), zuzubereiten, einzeln abzupacken und in bunten Papiertüten zu verstauen. Die Tüten waren eigens von den Erzieherinnen geklebt worden, verziert und mit dem Namen der Kinder beschriftet aus Anlass des 12. Oktobers, in Brasilien „Tag des Kindes“, vergleichbar mit St. Martins Tag im Rheinland. Am 12.10. werden Kinder verwöhnt – dieses Jahr wurde eben alles mit der Lebensmittelübergabe zusammengelegt; eine Eigeninitiative der Mitarbeiterinnen!
Für die Knirpse der Kita findet alljährlich eine Weihnachtsfeier mit allem Drum und Dran in GIRASSOL statt. 2020 wird auch das nicht möglich sein. Die Erzieherinnen haben überlegt, was man trotzdem machen könnte: in der Vorweihnachtszeit wird sich im Lebensmittelpaket ein Extratütchen finden, in dem sich die Zutaten für einen bestimmten Weihnachtskuchen befinden. Die Arbeitsblätter werden die Anleitungen zum Backen des Kuchens, und für seine Dekoration enthalten, sowie Material und Anleitung für eine weihnachtliche Bastelarbeit. Alles ist so konzipiert, dass die Tätigkeiten über mehrere Tage verteilt sein werden und Geschwisterkinder beteiligt werden können. Als krönender Abschluss wird es eine „Videokonferenz“ aller Erzieherinnen und Kita-Kinder geben, um eine virtuelle Weihnachtsfeier gemeinsam zu erleben, bei der auch der Kuchen angeschnitten werden wird.
Das COVID-19-Virus wütet in Brasilien besonders zerstörerisch. 13 unserer Kinder haben sich bisher infiziert, ein Lehrer und 15 Berufsschüler: drei von ihnen mussten in stationäre Behandlung, das Leben eines dieser Mädchen hing über Wochen am seidenen Faden – inzwischen ist es wieder vollends gesund. Die Maßnahmen das Virus halbwegs zu beherrschen, hindern GIRASSOL daran, seinem wichtigsten Auftrag komplett gerecht zu werden. Aber wir begreifen uns ja mittlerweile auch als Sozialzentrum – und diese Aufgabe bewältigt die Einrichtung derzeit vorbildlich! Hunderten von Menschen ist GIRASSOL in 2020 nicht nur Leuchtturm sondern wahrhaft ein Hafen geworden. Unsere Sozialarbeiterin und unsere Psychologin können Unzähligen Halt und Orientierung bieten; Verzweifelte schöpfen durch unser Tun wieder Hoffnung; die Tage der Kinder und Schüler haben durch den virtuellen Unterricht eine Sinn gebende Struktur. Es ist eine sehr enge Bindung zwischen all‘ diesen Menschen entstanden, von nachhaltigem Wert.
Aber bei GIRASSOL kann nur geleistet werden, was geleistet wird, weil es in Brasilien und auf unserer Seite des Atlantiks so viele Menschen gibt, die bereit sind, uns durch Sach- und/oder Geldspenden zu unterstützen. WÜRDE sollte nicht nur als Konjunktiv verwendet werden. Durch Ihre Spende ist GIRASSOL überhaupt in der Lage, zu helfen, so vielen Familien Halt zu geben, verzweifelten Menschen die Würde zu erhalten und ihnen das Licht der Hoffnung immer aufs Neue zu entzünden. Wir bedanken uns bei Ihnen allen da draußen, die Sie auf unseren Apell im Frühsommer so großartig reagiert haben und in Grajaú wirklich einen Unterschied zum Positiven für „unsere GIRASSOL-Familien“ herbeiführen konnten. Die Bildung ist heuer etwas zu kurz gekommen, aber Sie haben dazu beigetragen, den Menschen ihre unantastbare Würde zu bewahren, indem sie bei GIRASSOL Beistand in großer Not erfuhren.
Die Anforderungen an GIRASSOL werden 2021 nicht geringer sein, notleidende Familien noch weiterhin unsere Extra-Unterstützung brauchen – und der Lehrbetrieb soll/kann – hoffentlich! – endlich wieder aufgenommen werden.
Daher bitten wir Sie sehr, uns durch Ihre Spenden zu dieser überaus wichtigen Arbeit auch zukünftig zu befähigen. Es ist nicht leicht in dieser Zeit eine positive Grundstimmung zu behalten. Zwar sieht die Welt nach wie vor Monaten der Ungewissheit entgegen. Dennoch können wir gemeinsam die Augen hunderter Kinder auch an Weihnachten 2020 zum Leuchten bringen!
Bleiben Sie gesund und kommen Sie gut durch diese schwierigen Zeiten! Mit nochmaligem tief empfunden Dank senden wir Ihnen weihnachtliche Grüße!
Ihre Andreas Krebs und Dr. Thomas Schmidt