Weihnachtsbrief 2019

Liebe GIRASSOL-Freunde,

Schon ist die Zeit der Rückblicke, Jahreszusammenfassungen und Bilanzierungen angebrochen. Für den Förderverein und GIRASSOL können wir mit Überzeugung behaupten: 2019 war ein gutes Jahr! Dank der harmonischen, professionell-effizienten Zusammenarbeit mit unserem lokalen Trägerverein SBA konnte wirklich viel erreicht werden in São Paulo.

Eine erneute signifikante Spende von Sternstunden e.V. machte es möglich, im Berufsbildungszentrum die Schneiderei- und die Elektrik-Lehrwerkstatt zu renovieren und mit modernen, digital unterstützten Geräten und Apparaturen auszustatten und außerdem einen neuen Bäckerei-Kurs mit dazugehöriger Lehrwerkstatt einzurichten. Über das gesamte Unterfangen berichteten wir wiederholt auf Facebook, unserer Homepage und im letzten Sommerbrief. Zur Jahresmitte starteten wir einen Sonderspendenaufruf an unsere Förderer und Unterstützer, für den Kauf eines 7-sitzigen Autos für GIRASSOL – die Aktion „COMBI“ war ein absoluter Erfolg! Es konnte der neue Wagen erworben werden und sogar sein Betrieb ist für längere Zeit gewährleistet, ohne das Budget vor Ort zu belasten! Auch hierzu berichteten wir über die bereits erwähnten Kanäle.

GIRASSOL ist in Grajaú ein Leuchtturm, für viele Menschen in der Gegend ein Ort der Hilfestellung. Die Leitung der Einrichtung ist fortwährend bemüht, die vorhandene Infrastruktur noch optimaler zu nutzen: einmal wöchentlich öffnet jetzt die ambulante Außenstelle der öffentlichen Gesundheitsversorgung der Allgemeinheit in einem Raum in GIRASSOL die Tür – für viele Patienten wäre der Weg zum Arzt sonst schlicht zu weit und zu teuer. Regelmäßig werden an gleicher Stelle Impfkampagnen durchgeführt für unsere Kinder, Jugendlichen, Mitarbeiter und deren Angehörigen, wie auch der benachbarten Bevölkerung.

Bildung ist der Schlüssel zum Aufstieg aus der favela – nicht nur für Kinder und Jugendliche. 20 Erwachsene, Angehörige unserer „jungen Klientel“ werden 2019 erstmals in einem Pilotprojekt in GIRASSOL auf ihre ENCCEJA – Prüfung vorbereitet. Dieses Angebot richtet sich an Menschen ohne Schulabschluss, diesen nachzuholen – ein Zertifikat, das allerdings unabdingbar ist für beinahe alle berufsbildenden Möglichkeiten in Industrie und Wirtschaft. Mit diesem Abschlusszertifikat können die Menschen einen großen Schritt Richtung Ausbildung und geregeltes Einkommen gehen und davon profitieren natürlich ganze Familien. Die Lehrer für dieses Angebot sind Freiwillige aus unserem Lehrkörper. Und das belegt, unserer Ansicht nach, das unendlich wertvolle GIRASSOL-Solidaritätsgefühl unserer Mitarbeiter! Schon seit Jahren bieten die Lehrerinnen des Schönheitspflege- und des Schneiderei-Kurses auf ehrenamtlicher Basis ein „Parallelkürs-chen“ für Erwachsene an – für viele dieser (fast immer sind es) Frauen ist diese, die erste Gelegenheit, in ihrem Leben etwas zu lernen, um sich weiterentwickeln zu können.

An einem solchen Schneiderei-Kurs nahm die Großmutter von Andressa teil und erfuhr dabei von der Verwaltungsgrundlagen-Ausbildung. Sie erreichte, dass die Enkelin sich bewarb und diese erhielt auch einen GIRASSOL-Ausbildungsplatz, gerade weil die katastrophalen Familienverhältnisse durch die Erzählungen der älteren Frau bekannt waren. Andressa ist eine gute Schülerin, wird jedoch von Beginn an durch ihre krankhafte Schüchternheit an einer gesunden Entfaltung ihrer Fähigkeiten gehindert. In der 20m² großen Hütte, ihrem Zuhause, leben die Großmutter, die 29-jährige Mutter, die 16-jährige Andressa und weitere fünf (!) kleinere Geschwister – insgesamt gibt es vier unterschiedliche Väter, von denen keiner sich verantwortlich fühlt oder anwesend ist. Die Großmutter hält den Laden, so gut sie kann, zusammen …. Bald beobachtete man in GIRASSOL, dass das junge Mädchen noch in sich gekehrter wurde, langärmlige Kapuzenpullis auch bei größter Hitze trug und es stellte sich heraus, dass so die sich selbst zugefügten Schnittverletzungen an den Unterarmen verborgen werden sollten. Alle Versuche unserer Sozialarbeiterin und Psychologin, an das Mädchen heranzukommen und ihm zu helfen, schlugen fehl. Vor vier Monaten konnte Andressa in letzter Minute gerettet werden – die Großmutter fand sie nach einem Suizidversuch. Und nun gelang es auch, sie zu erreichen: sie fasste Vertrauen zu Sra. Cleibe, der GIRASSOL-Leiterin und sie verstand, nach vielen Stunden Gesprächstherapie, dass nicht sie die Schuld für das verkorkste Leben ihrer Mutter (die sie als 13-Jährige bekam) trägt, auch nicht dafür, dass diese bis heute nicht in der Lage ist, ihre Lebensführung zu korrigieren. Andressa trägt heute kurzärmlige T-Shirts; sie ist offener geworden; sie wird nach ihrem GIRASSOL-Abschluss eine Ausbildung in einer Bank (mit kleinem Gehalt sogar!) anfangen; ihre Großmutter ist mittlerweile ihre Erziehungsberechtigte, die auch verhindern wird, dass die Mutter an ihr Geld kommt. Weiterhin wird das Mädchen psychologisch betreut und Tania, unsere Sozialarbeiterin, sorgt dafür, dass der Familie geholfen wird, den jüngeren Geschwistern ein ähnliches Schicksal zu ersparen. Wir sind voll Zuversicht, dass Andressa, die immer stabiler und selbstbewusster wird, nicht nur ihren eigenen Weg wird gehen, sondern den Jüngeren auch wird beistehen können.

Zu Beginn des Schuljahres 2019 hatte GIRASSOL 260 Ausbildungsplätze in sechs verschiedenen Kursen anzubieten: über 1.700 Bewerber schrieben sich fürs Auswahlverfahren ein. Gezielter Förderunterricht, verstärkte psycho-soziale Betreuung unserer Auszubildenden und ihrer Familien - Tania stattete beispielsweise über 160 (!) Hausbesuche ab - , kontinuierliches „sozialisierendes Coaching“ haben dazu geführt, dass die Abbrecherquote heute bei nur noch etwa 13% liegt (zum Vergleich: in Deutschland ist, lt. dem letzten Bundesbildungsbericht 2018, die Abbrecherquote bei der Berufsausbildung zwischen 20 und 25%). In der Beliebtheitsskala liegt Schönheitspflege mit 611 Interessenten an erster Stelle, gefolgt von Bäckerei mit 408 Bewerbern auf 40 Plätze.

Musik, die verlässlichste, unkomplizierteste Form der Kommunikation bekommt ein immer größeres Gewicht in der pädagogischen Ausrichtung der Kita, hilft sie doch nachhaltig Inhalte zu vermitteln und Wissen zu festigen, fördert soziale Interaktion, kanalisiert Emotionen und noch so viel mehr. Auch bei unseren GIRASSOL-Kids wird sehr daran gearbeitet, das sozial sehr schwache Umfeld aus dem sie stammen, im Sinne ihrer gesunden Entwicklung zu beeinflussen. Die Angehörigen unserer Kinder sind so gut wie immer alleinerziehende Frauen mit extrem mangelhafter Bildung, verhaftet in einem emotionalen Filz aus Misstrauen, Vorurteilen, Ängsten, Prägung durch Gewalt und daraus resultierender Überforderung und Ablehnung Maßnahmen gegenüber, das alles zu durchbrechen. Auch damit müssen sich unsere MitarbeiterInnen Tag für Tag auseinander setzen.

Der fünfjährige Gabriel hat vier ältere Geschwister, kam 13 Jahre nach dem Jüngsten von ihnen auf die Welt – Vater abwesend. Er ist im zweiten Jahr bei uns: von Anfang an war klar, dass er schwer misshandelt wird von der Mutter. Trotz vieler Vorladungen, Gespräche und Hilfsangebote durch GIRASSOL, zeigte sie sich vollkommen uneinsichtig und widerständig, behauptete die Vorfälle wären Unfälle. Die Erzieherinnen begannen, unterstützt durch unser psycho-soziales Team, Protokolle von den Schilderungen des Kleinen anzufertigen, dokumentiert durch Fotos der Verletzungen und warnten die Mutter, das Jugendamt einzuschalten. Erst als die Frau in GIRASSOL vor der Erziehungsleiterin, einer Beamtin der Jugendbehörde und der Erzieherin nebst Sozialarbeiterin saß und ihr klar gemacht wurde, man würde ihr das Sorgerecht nehmen, das Kind im Heim unterbringen – da endlich erst war sie in der Lage, den Ernst der Situation zu begreifen. Sie willigte ein, sich helfen zu lassen, steht für die kommenden Jahre unter Aufsicht des Jugendamtes, hat eine Reihe von Auflagen zu erfüllen. Das alles ist vermerkt auf den Dokumenten des Jungen, so dass jeder Arzt, später die Schule, usw. sofort im Bilde sind. Seit nunmehr fünf Monaten gab es keinen Vorfall mehr, der Kleine blüht auf und wird zusehends weniger aggressiv und seine Mutter wirkt bedeutend ausgeglichener und lernt einen vollkommen neuen Umgang mit ihrem Nesthäkchen.

Der Hauptauftrag von SBA GIRASSOL Kids/Pro ist, Erziehung und Bildung zu vermitteln. Aber diesem Auftrag kann manches Mal nur Folge geleistet werden, wenn erst „das Leben der Leute in Ordnung gebracht“ wird. Erst durch diese Leistung ergänzt, kann sich einem GIRASSOL-Absolventen mit dem bei uns erworbenen Wissen, der Weg aus der Perspektivlosigkeit der favela ebnen; können einem Kita-Kind die volle Entfaltung und eine gesunde „Schullaufbahn“ Wegweiser in eine hoffnungsvolle Zukunft sein.

Und so entwickelt die Einrichtung GIRASSOL sich immer weiter zu einem Brücken bauenden Sozialzentrum, zum Wohle von viel mehr Menschen als nur denjenigen Kindern und Jugendlichen, die bei uns Aufnahme und Betreuung gefunden haben.

Nur durch Ihre Spenden, Ihre Unterstützung ist diese Arbeit in Grajaú überhaupt möglich – auch Sie sind Brückenbauer!

Für das in uns gesetzte Vertrauen möchten wir uns im Namen von GIRASSOL aufs Herzlichste bedanken und bitten Sie sehr darum, uns auch zukünftig weiterhin zu unterstützen.

Wir wünschen eine schöne Adventszeit, gesegnete Weihnachten und Gesundheit und Tatkraft für das Jahr 2020!

Mit nochmaligem aufrichtigen Dank grüßen Sie
Andreas Krebs und Dr. Thomas Schmidt

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