Sommerbrief 2024

Sommerbrief 2024

Liebe GIRASSOL-Freunde,

noch zwei Wochen, dann beginnen in São Paulo an allen Bildungseinrichtungen die Winterferien. Seit kurzem sinken die heißen Sommertemperaturen auf ein erträgliches Maß und große Hoff­nungen ruhen auf den bald zu erwartenden wirklich kalten Wochen des bevorstehenden südlichen Winters. Dringend wird eine Kälteperiode gebraucht, um den Dengue-Fieber übertragenden Stechmücken den Garaus zu machen. Seit einem halben Jahr wütet ein Dengue-Fieber-Ausbruch in Brasilien, der in einigen Gegenden Epidemie-Ausmaße angenommen hat - São Paulo gehört zu diesen sehr stark betroffenen Regionen. In der heißen Regenzeit vermehren sich die tagaktiven Mücken in den Städten besonders rasant, da sich überall Pfützen und Wasserrückstände zwischen all‘ dem herumliegenden Unrat vor allem in den Armenvierteln finden. Es sind genau solche kleinen stehenden Gewässer, die sich schnell durch Sonneneinstrahlung erwärmen, in denen die Mücken ihre Eier ablegen und aus denen dann Heerscharen neuer Mücken schlüpfen. Außerdem fördern die Besiedlungsdichte und die bauliche Minderwertigkeit der Häuser dieser Stadtviertel die schnelle Verbreitung der nicht selten tödlichen Erkrankung. Der Erreger, der die Blutgerinnung beeinträchtigt, wird von einer Mücke erst auf einen weiteren Menschen übertra­gen, wenn sie vorher einen bereits Infizierten gestochen hat. Ergo, je verwahrloster die Umge­bung, je dichter die Menschen beieinander leben in Häusern ohne Fliegengitter vor den Fenstern, Ritzen in den Wänden und der heißen Temperaturen wegen nur sehr leicht bekleidet sich im Freien bewegen, desto Besorgnis erregender gestaltet sich die Ausbreitung der gefährlichen Krankheit. In manchen Bezirken sind die Zustände in den Krankenhäusern vergleichbar mit der Überforderung der CORONA-Zeit. Die Menschen sind verunsichert und verängstigt, sitzen die Schrecken jener Jahre ihnen noch tief in der Seele. GIRASSOL liegt mitten in so einem hot spot und hat leider auch traurige Geschichten zu berichten. Verschiedene unserer Lehrkräfte sind zum Teil schwer erkrankt, auch einige unserer Auszubildenden waren mitunter mehrere Wochen nicht in der Lage, zum Unterricht zu kommen, denn die Erholungszeit nach der akuten Phase kann in der Tat viele Wochen dauern. Die Patienten verspüren dann eine lähmende Erschöpfung, beglei­tet von nur langsam zurückgehender Schwäche.

Aber wenn es die Kleinen erwischt, dann ist es besonders schlimm und berührend. Von den verschiedenen bisher infizierten Kita-Kids haben zwei kleine Buben die Krankheit nur überlebt, weil sie über Wochen im Krankenhaus behandelt werden konnten. In Brasilien ist es geboten, dass Patienten im Krankenhaus eine Begleitperson haben, die sich um die persönlichen Belange des Kranken kümmert. Der Kleine, von dem wir hier berichten möchten, musste sehr eilig eingeliefert werden; seine Mutter war bei ihm. Seine Familie stammt aus Bolivien und war auf der Suche nach einem besseren Auskommen vor einiger Zeit nach São Paulo gekommen. Vater und Mutter fanden Arbeit als Akkordnäher in der Textilindustrie. Die Gehälter beider Eltern reichen gerade so, die Miete für zwei ärmliche Zimmer in Grajaú zu bezahlen und einen sehr bescheidenen Lebensstandard. Die beiden Söhne sind tagsüber in der GIRASSOL-Kita, werden verpflegt und beaufsichtigt. Dass viele unserer Kinder am Tag nur das zu essen bekommen, was es bei uns gibt, ist uns bekannt - zuhause ist nichts da. Wie dramatisch die Situation in manchen Familien tatsächlich ist, kam zutage, als unserer Krankenschwester Arlete im stetigen Austausch mit der Mutter unseres kleinen erkrankten Bolivianers klar wurde, wie extrem dankbar die Frau GIRASSOL war, dass ihr zweiter Sohn bei uns die Woche über Essen bekommt. Seit sie mit dem Kranken in der Klinik war, verdiente nur ihr (wie auch sie selbst) illegal beschäftigter Mann Geld - ihr Lohn wurde natürlich nicht fortgezahlt und sie konnten von seinem Lohn nur die Miete bezahlen … Sofort organisierte Arlete mit dem psycho-sozialen Dienst (PSD) eine kleine „betriebsinterne“ Sammlung und erledigte einen Großeinkauf, damit Vater und gesunder Sohn daheim etwas zu essen hatten. Auch kümmerte sie sich hingebungsvoll um die Familie, als Patient und Mutter entlassen wurden, die Mutter aber noch nicht zur Arbeit gehen konnte, weil der Junge noch eine längere Zeit viel zu schwach war, wieder in die Kita gehen zu können. Es erschüttert uns immer wieder zutiefst, wenn wir durch solche Vorkommnisse realisieren, wie weit die Lebensrealität und -normalität vieler Menschen von unserer eigenen abweicht. Und es erfüllt uns mit einer kaum zu beschreibenden dankbaren Motivation, uns für GIRASSOL einzusetzen, das dazu beiträgt, das Leben so vieler benachteiligter Menschen zum Besseren zu wenden. Und Sie mit Ihren Spenden befähigen uns zu dieser Segen bringenden Arbeit!

Und von Arletes Arbeit zu erzählen, bringt uns zu unserem nächsten wichtigen Thema unseres diesjährigen Sommerbriefes. Wir haben schon mehrfach über die Bedeutung guter Ernährung und der Relation zur kindlichen Entwicklung geschrieben; zuletzt im Sommer 2023, nachzulesen auf unserer Homepage unter „Aktuelles“. Arlete hat zu Anfang des vergangenen Jahres begonnen, ein Register aufzubauen, mit den bei uns erhobenen Daten zum Gesundheits- und Entwicklungszustand unserer Schützlinge: wie groß und schwer sind die Kinder; über welche motorischen und kognitiven Fähigkeiten verfügen sie; wie umfangreich ist ihr Wortschatz; wie lange währt ihre Aufmerksamkeitsspanne, usw. Die Tabellen wurden in Zusammenarbeit mit den Kolleginnen aus dem PSD erarbeitet, basierend auf den Vorgaben der WHO. Zusätzlich werden nun auch die Erziehungsberechtigten um Auskünfte über das Familienleben, Einkommen, Bildungsgrad, usw. gebeten. Und was schon lange vor Ort zu beobachten war, lässt sich bereits jetzt nach so kurzer Zeit zweifelsfrei belegen: es gibt einen zwingenden wie ernüchternden Beweis dafür, dass Bildung, Einkommen, Ernährung und Allgemeinzustand der Kinder leider in absolut direkter Verbindung zu einander stehen. Weniger als die Hälfte (47,4%) unserer Dreijährigen hatten ein altersgerechtes Gewicht und nur etwas mehr als ein Viertel (26,3%) dieser Kinder hatte zu Beginn des Schuljahres im Februar 2023 eine altersgemäße Körperlänge. Als die Messungen Ende 2023 wiederholt wurden, konnte einwandfrei belegt werden, dass nunmehr 91,5% der Kleinen ein adäquates Gewicht und 83% eine altersgemäße Körpergröße aufwiesen. Die Kinder richtig zu ernähren und ihre sie erziehenden Angehörigen zu diesem Themenkomplex in Seminaren und Schulungen aufzuklären und zu unterweisen, führt zu äußerst erfreulichen und Gesundheit fördernden Resultaten. Auch all‘ die anderen überprüften Parameter wiesen ebenfalls eine überaus zufriedenstellende Verbesserung auf. Bei den Kindern, die noch immer nicht in der WHO-Norm lagen, war teilweise im Laufe des Jahres schon festgestellt worden, dass es medizinische oder soziale Ursachen für die Abweichung gibt - oder eben schlicht kein Geld da ist, dass diese Kleinen auch an „GIRASSOL-freien“ Tagen (Wochenende, Ferien) ordentlich zu essen bekommen …

Als im August 2015 die Kita in ihrer heutigen Form den Betrieb aufnahm, wurde eine kleine Krankenambulanz eingerichtet. Arletes Arbeitsraum misst in etwa 2,5 auf 3 Meter, enthält eine kurze, wirklich alte Behandlungsliege, einen kleinen Instrumentenschrank, einen Mini-Schreibtisch (der verschoben werden muss, um an den Schrank zu kommen!) und einen Stuhl, auf dem entweder sie oder der Patient sitzt - alles damals als „ausrangierte“ Sachspende aus einem großen Krankenhaus zu uns gekommen. Die Aufgaben unserer Krankenschwester haben sich im Laufe der Jahre so sehr vervielfältigt und sind mit dem Ausbau des PSD so umfangreich geworden, dass dieser winzige Raum mit seiner altersschwachen Ausstattung seinem Zweck nicht mehr so recht dienen kann. Es ist dringend erforderlich geworden, die jetzige Ambulanz mit einem danebenliegenden, größeren Raum zusammenzulegen, durch eine Verbindungstür auszustatten, größere, gut schließende Fenster für mehr Tageslicht einzubauen und eine Möblierung herbeizuschaffen, die unserer engagierten Krankenschwester ein fachgerechtes und zielführendes Arbeiten ermöglichen. Arlete „verarztet“ hier ja nicht nur irgendwelche beim Spielen zugezogenen Kratzer. Manche Kinder brauchen täglich zu verabreichende Medikamente. Mitunter gibt es kleinere Arbeitsunfälle, die schnell versorgt werden müssen. Arlete wacht über die Impfausweise der Kinder, Auszubildenden und Angestellten und stellt sicher, dass alle immer über die optimale, fristgerechte Immunisierung verfügen. Sie hält Vorträge über so ziemlich alles, was für Jugendliche gesundheitlich relevant ist, aber auch für die Angehörigen der Kinder und Jugendlichen. Mitunter führt sie vertrauliche Gespräche mit einzelnen, erreicht die Einsicht, Hilfe annehmen zu müssen und zu dürfen und organisiert diese dann. Sehr häufig ficht sie wahre Kämpfe aus, um im sehr schlecht funktionierenden öffentlichen Gesundheitswesen Termine bei Spezialisten zu vereinbaren: für unsere Kinder, Auszubildenden, deren Angehörigen oder sogar manchmal für die Kollegen, von denen der eine oder andere selber kaum lesen und schreiben kann. Die verhältnismäßig geringen Maßnahmen, um die Ambulanz zu erweitern, werden ein Budget von € 18.000,- bis € 20.000,- nicht überschreiten und sollen schon im kommenden Winterferienmonat Juli durchgeführt werden. Es wäre eine enorme Hilfe, wenn Sie sich zu einer Spende für dieses Vorhaben entschließen könnten. Dadurch wird die Arbeit dieser Frau unterstützt und überhaupt in der Form nur möglich gemacht, die sich für GIRASSOL und die Belange seiner Menschen weit über das Maß engagiert, das ihre Stellenbeschreibung von ihr erwartet. Ihre Spende hilft zu helfen!

Über die vergangenen zwei Jahre war zu beobachten, dass unsere Auszubildenden immer häufiger vorzeitig den Kurs abbrachen. Sobald sie ein paar Grundkenntnisse erworben hatten und sich ihnen eine Gelegenheit bot, einen Job anzutreten, ließen sie das heiß begehrte Abschlusszertifikat sausen. Die Arbeitsmarktsituation ist so schlecht in Brasilien, dass vornehmlich wenig gebildete Arbeitswillige nehmen müssen, was immer sie kriegen können. Nicht selten sind dann unsere Abbrecher die einzigen in ihren Familien, die überhaupt etwas verdienen. Ein großes Dilemma. Das problematische Thema ist auch den Schulbehörden nicht fremd. In enger Abstimmung mit ihnen ist nun seit Beginn des Schuljahres 2024 ein neues Konzept in GIRASSOL Pro in Kraft: jeder Kurs ist in Module gegliedert worden, von denen die unerlässlichen in den ersten vier Monaten abgehalten werden. Parallel lernen alle handwerklich basierten Kursteilnehmer gleich am Anfang drei, vier Fertigkeiten, mit denen sie sehr schnell nebenbei schon ein wenig Geld verdienen können. Beispielsweise lernen angehende Bäcker gleich ein simples, leicht abzuwandelndes Kuchenrezept, um damit im häuslichen Ofen verschiedene Torten auf Bestellung zu backen, oder drei einfache Finger-Food-Rezepte, die sie bald schon auf Bestellung von daheim zum Kauf anbieten können. Die zukünftigen Schneider bekommen gleich in den ersten Tagen ein paar Reparaturoptionen beigebracht (neuen Reißverschluss einsetzen, durchgestoßene Langarmhemden in Kurzarmhemden umarbeiten, usw.), was sie dann ebenfalls von zuhause aus anbieten können. Ebenso erlernen die angehenden Elektriker Reparaturarbeiten an Haushaltsgeräten auszuführen, womit auch sie schon sehr schnell ein kleines Einkommen generieren können. Das verringert die Versuchung, eine schlecht bezahlte Schwarzarbeit aufzunehmen und ermöglicht den Leuten die Ausbildung, deren Dauer sehr komprimiert wurde, zu Ende zu bringen. Sind die Grundmodule der Ausbildung einmal geschafft, winkt das Abschlusszertifikat und die Möglichkeit, einzelne, weiterführende, Kenntnisse vertiefende Module zu absolvieren, beispielsweise in Seminaren an Samstagen oder nach Feierabend, so als handelte es sich um Fortbildungen. Das Interesse für das neue Programm ist sehr groß und wir sind überzeugt, dass es sich als zielführend erweisen wird.

Zum Abschluss möchten wir Ihnen noch von Clara, unserer von CHANCE+ Begünstigten berichten. Sie hat mit der Hilfe vor allen Dingen der Psychologin gelernt, all‘ jene Defizite, die sie so sehr begrenzt und verunsichert haben, gut zu handhaben. Sie wird nicht mehr von Panikattacken heimgesucht, hat sich emotional stabilisiert und ist damit in die Lage gekommen, ihr Potential auszuschöpfen. Sie hat ein vergleichsweise belastbares Selbstvertrauen gewonnen, hat zuletzt zuverlässig selbstständig gearbeitet, ein gesundes Verhältnis zu ihren Mitmenschen aufbauen können. Seit dem 15. Mai hat sie eine bezahlte, arbeitsrechtlich konforme Praktikantenstelle bei MERZ do Brasil, geht abends zur Schule und bereitet sich auf die Aufnahmeverfahren zur Universität vor. Nebenher bewirbt sie sich um ein Stipendium, um die Studienkosten finanzieren, und so überhaupt erst studieren zu können. Wenn es zwischendurch doch noch einmal Einbrüche geben sollte, kann sie sich jederzeit an die ihr vertrauten Menschen aus dem zurückliegenden Jahr wenden. Sie kommt ihrem großen Traum, Jura zu studieren, zielstrebig und stetig näher - Dank GIRASSOL und Ihrer Spenden!! Ab dem 1. Juli wird eine neue junge Frau von CHANCE+ profitieren; eine die wie ihre Vorgängerinnen noch einer besonderen Unterstützung bedarf, damit sie anschließend ihr Potential voll ausschöpfen kann. Und von drei weiteren Absolventen des Verwaltungsgrundlagenkurses ist zu berichten, dass auch sie eine gesetzes-konforme Anstellung in einer Niederlassung der Blue-Tree-Hotelkette antreten konnten, auf dem Weg aus der Perspektivlosigkeit ihrer Herkunft hin zu einer würdigen Zukunft.

Mit dem oben Erzählten haben wir Ihnen hoffentlich wieder eine Illustration von GIRASSOL bunt ausmalen können; eindrücklich schildern können, wie wir Ihre Spenden vor Ort einsetzen, um das Leben möglichst vieler benachteiligter Menschen zum Besseren wenden zu können, in der Überzeugung, dass der kürzeste Weg aus der Armut der Weg zur Schule ist. Wir danken für Ihr Interesse und für Ihr Vertrauen und bitten Sie, uns auch weiterhin gewogen zu bleiben. Hoffen Sie mit uns auch auf zwei, drei richtig kalte Wochen in São Paulo, damit die Dengue-Mücken nachhaltig dezimiert werden können!

Seien Sie sehr herzlich gegrüßt von

Andreas Krebs, Vorsitzender                           Dr. Thomas Schmidt, stellvertretender Vorsitzender

 

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